Nicht nur wegen der Corona-Krise, sondern auch aufgrund des Digitalisierungs- und Kostendrucks in vielen Unternehmen gewinnen Remote-ACs zunehmend an Beliebtheit. Häufig erreicht uns aber die Frage, wie sich Remote Assessment Center in ihrer Aussagekraft und auch ihren Beurteilungsmöglichkeiten von Präsenzverfahren unterscheiden. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch wichtig zu überlegen, wie man konzeptionell auf diese Unterschiede reagieren muss und was notwendig ist, damit Remote Assessment Center eine vergleichbar gute Vorhersagegenauigkeit haben, wie Präsenzverfahren.
Dieser Artikel beleuchtet mögliche Einschränkungen im Remote-Setting und die Lösungsansätze, die bei der Konzeption berücksichtigt werden müssen.
1. Fehlende Beobachtungselemente im Remote Assessment
Diejenigen Aspekte, die im Remote Assessment nicht so gut feststellbar sind, beziehen sich vor allen Dingen auf die folgenden zwei Themenfelder:
1) Bewusste und unbewusste Elemente der Körpersprache
In einem Remote Assessment bleiben natürlich bestimmte Elemente der Körpersprache nicht so gut oder auch gar nicht beobachtbar. Hierzu gehören bewusste Elemente der Körpersprache (zum Beispiel ein bewusst präsentes Auftreten vor einer Gruppe in einer Präsentationssituation, ein starker Händedruck oder ein forsches Zugehen auf andere in Gesprächssituationen), aber auch unbewusste Aspekte der Körpersprache (wie zum Beispiel Nervosität, die sich in fahrigen Handbewegungen äußert, in Beinwippen etc.).
2) Sympathiefaktoren, die auf der „Chemie“ zwischen Personen basieren
Bestimmte Sympathiefaktoren wird man natürlich in einem Remote Assessment längst nicht so intensiv wahrnehmen können, wie dies in einer persönlichen Begegnung der Fall ist. Dies gehört oft zu denjenigen Elementen, die Beobachter oder Entscheider besonders vermissen. Relevant sind sie natürlich vor allen Dingen da, wo man Leute beurteilt, mit denen man später selbst unmittelbar zusammenarbeiten muss und wo man verstehen will, ob man auch auf der persönlichen Ebene gut zueinander passt. Es ist nicht so, dass ein Remote Assessment diese Eindrücke vollständig ausschließt, aber sie sind natürlich zum Teil reduziert.
An dieser Stelle muss man natürlich fragen, wie gravierend die Einschränkung in diesen beiden Themen zu beurteilen sind, denn es muss auf der anderen Seite gesagt werden, dass man diejenigen Aspekte, die unmittelbar mit Kompetenzen und Leistungen zu tun haben, die „challengebar “ sind, auch im Remote AC sehr gut sichtbar gemacht werden können. Die hier genannten Aspekte haben natürlich einen wichtigen Einfluss in der Wahrnehmung vieler Beobachter und man kann das Bedürfnis nach bestimmten subjektiven persönlichen Eindrücken durchaus nachvollziehen. So lässt sich als Fazit Folgendes festhalten:
- Wenn es um interne Besetzungsverfahren geht, bei denen die Beurteiler die Bewerber ohnehin persönlich kennen und bei denen beispielsweise nur noch eine Shortlist an letzten Kandidaten miteinander verglichen werden muss, sind die hier beschriebenen Einschränkungen vermutlich selten wirklich relevant.
- Bei externen Bewerbern wird man vermutlich in vielen Fällen die persönlichen Eindrücke entweder in einem dem Remote AC vor oder nachgelagerten Interview sammeln können. Man wird sich nur in ausgewählten seltenen Fällen vollständig auf ein Remote Assessment in der Auswahl verlassen. Insofern kann man offen damit umgehen, dass diese Beurteilungselemente eben an anderer Stelle im Auswahlprozess ihren Platz finden müssen und das Remote AC eben stärker kompetenz- und leistungsbezogene Fragen beantwortet.
- Für interne Development Center spielen die fehlenden Elemente vermutlich ebenfalls keine so ganz starke Rolle, weil es dabei zumeist nicht um subjektive Passungsfaktoren und wahrgenommene Nähe geht. Gerade interne Development Center können am stärksten davon profitieren, wenn man sich eben etwas unbeeinflusster von diesen Elementen auf Leistung, Potenzial und Kompetenzen konzentriert und vielleicht damit sogar ein Stückchen zur Objektivierung beiträgt.
All dies sind natürlich keine „Schwarz-Weiß-Argumente“, sondern es geht immer um ein „etwas mehr – etwas weniger“. Aber trotzdem können diese Argumente dabei helfen, die Frage nach den fehlenden Dimensionen und ein Remote Assessment ein wenig zu präzisieren und zu rationalisieren und klarer herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen welche Einschränkungen mehr oder weniger gravierend sind . Die bisherige Erfahrung im Rahmen von Remote Assessments zeigt eher, dass die Beobachter nach einem intensiven Online-Verfahren zumeist nicht den Eindruck hatten, dass bestimmte Eindrücke fehlen, die zu einer schlüssigen Entscheidungsfindung noch nötig oder sogar unverzichtbar wären.
2. Konsequenzen aus den vorher diskutierten Einschränkungen für die Konzeption von Übungen und AC Bausteinen
Die wichtigste Konsequenz aus den genannten Einschränkungen besteht darin, dass man das Fehlen der körpersprachlichen Ebene und damit auch einer gewissen situativen Empathie-Ebene in einem Remote AC anderweitig kompensieren muss. Die unmittelbarste Konsequenz ist, dass es wichtig ist, Dinge zu versprachlichen und zu explizieren, die sich in einem Offline-Treffen, manchmal auch durch einen kurzen Blickkontakt oder eine gehobene Augenbraue erledigen würden, da man im Remote AC nicht darauf vertrauen kann, dass solche subtilen Signale sicher gelesen werden können (zum Beispiel weil gerade das Kamerabild wackelt oder kurz eingefroren war oder eben alleine aufgrund der Einschränkung, dass man immer nur Gesichter von sitzenden Menschen in einem Remote AC sehen kann).
Für Die Konzeption und Durchführung von Remote-ACs ergeben sich daraus die folgenden Konsequenzen
1) Rollenspiele
Als Rollenspieler muss man in einem Remote AC bestimmte Reaktionen noch etwas „expressiver“ einbringen, als dies in einem Präsenz AC nötig wäre. In einem Präsenz AC genügt es, unter Umständen durch schwache Signale die Empathie eines Gegenübers testen zu können und die Logik wäre ja, dass ein Teilnehmer, der selbst sehr schwache Signale wahrnimmt und explizit aufgreift, über ein besonders hohes Ausmaß an Empathie verfügt. Hier muss man als Rollenspieler unter Umständen etwas „großzügiger“ mit gegebenen Hinweisen sein und diese unter Umständen etwas mehr versprachlichen und etwas weniger durch Körpersprache zum Ausdruck bringen, um dem Gegenüber eine faire Chance zu geben.
Eine besondere Innovation bilden hier videogestützte Rollenspiele, bei denen die Teilnehmer nicht nur eine schriftliche Instruktion erhalten, sondern den Gesprächspartner auch in einem Video „erleben“ können. Neben der der deutlich gestiegenen Authentizität kommt auch hinzu, dass das Gespräch eben nicht durch die Instruktion vorstrukturiert wird, sondern von Wahrnehmung und Interpretation des Teilnehmers abhängt.
2) Nachgespräche
Die Empathie-Komponente kann man aber trotzdem relativ gut durch ausführlichere Nachgespräche erfassen. Viel stärker als in einem Präsenz AC müsste man in einem Nachgespräch auch eruieren, wie bestimmte Äußerungen des Rollenspielers wahrgenommen wurden, wie man Verhalten oder Reaktion interpretierte und wie man die Effekte des eigenen Verhaltens als Teilnehmer auf den Rollenspieler einschätzt. Mit einem in dieser Hinsicht ausführlich geführten Nachgespräch ist die Empathie-Dimension durchaus auf eine ähnliche Art und Weise zu erfassen. Dies gilt übrigens umso mehr, wenn man mit Videogestützten Rollenspielen arbeitet – hier kann man die Interpretationsleistung der Teilnehmer und das Gefühl für die Situation noch differenzierter erfassen.
3) Situationen mit Gruppenführung
Etwas schwieriger bleibt die Dimensionen der „persönlichen Präsenz“ und der Führungsautorität in Gruppensituationen. Der Übungstyp „Teammeeting“ oder „Change Meeting“ (bei dem anwesende Beobachter Mitarbeiter oder Stakeholder verkörpern, denen der Teilnehmer in der Rolle als Führungskraft bestimmte Botschaften überbringen muss) funktioniert virtuell. Aber eine Rollenspieldynamik, in der sich die Rollenspieler wechselseitig unterbrechen, sich einen kurzen Schlagabtausch zu einem bestimmten Thema liefern oder aber an bestimmten Themen nicht loslassen bzw. sich auf eine Struktur nicht so einlassen, lassen sich virtuell schwieriger darstellen. Unterbrechen und „Durcheinanderreden“ sind virtuell viel stärker gegen jede „Etikette“ einer Videokonferenzsituation gerichtet, als das in einem Präsenzmeeting der Fall ist. Mittlerweile haben sich im professionellen Kontext alle daran gewöhnt, dass man in einer Situation, in der man selber unterbricht oder zu unterbrechen werden scheint, sofort schweigt und viel weniger um die Hoheit eines Wortes kämpfen würde, als man das in einem Präsenztreffen tut. Insofern beschränkt sich die Beurteilungsdimension in simulierten Teammeetings (mit den Beobachtern als Teammitglieder) deutlich stärker auf Strukturierung, Methodik der Meeting-Moderationen und die Güte der inhaltlichen Aufbereitung eines Themas, die sich sehr wohl vergleichbar challengen lässt wie in einem Offlineverfahren. Natürlich kann kritisch diskutiert werden, aber die Dynamik der Konflikte innerhalb des Teams wird man nicht so lebendig und authentisch virtuell abbilden können. Letztlich gilt für diese Anforderungsfacette, dass sie nur durch vertiefte Interviewphasen und Nachreflexionen ein Stück kompensierbar ist. Die Situation der „einsamen Aufnahme vor der Webcam“ reduziert einfach gewisse Chancen, persönliche Präsenz zu zeigen (wenngleich diese Chancen trotzdem nicht auf null reduziert sind). Hier gilt das gleiche Argument was schon vorher angebracht wurde: Die Chancen sind geringer als im Offline AC, aber eine gewisse Dimension von Präsenz, Enthusiasmus und Energie bleibt auf Remote natürlich trotzdem beobachtbar.
4) Fallstudien
Bei der Bearbeitung von Fallstudien spielen die genannten Einschränkungen am wenigsten eine Rolle, hier sind andere Aspekte relevant. Am ehesten sind die körpersprachlichen und kommunikativen Einschränkungen wichtig, wenn die Fallstudie eben auch ein bestimmtes Szenario für die Präsentation simuliert und diejenigen Aspekte zum Tragen kommen, die im letzten Abschnitt diskutiert worden waren. Die Einschränkungen von Fallstudien im Remote-AC beziehen sich vielmehr auf das Verhältnis von Vorbereitungszeit, Materialmenge und sinnvollen Fragestellungen. Grundsätzlich gilt für Remote-ACs sicherlich, dass es wesentlich Beobachter- wie auch Teilnehmerfreundlicher ist, kurze Fallstudien mit wenigen Beurteilungsdimensionen zu nutzen, die sehr spezifisch bestimmte Einzelkompetenzen challengen . So gibt es zum Beispiel Fallstudien, die tatsächlich nur Themen rund um Analyse, Struktur und Ambition erfassen. Bei einer solchen Fallstudie reichen unter Umständen auch 20 Minuten Vorbereitungszeit und 10 Minuten Durchführung. In anderen Fallstudien können in einem ähnlichen Ausmaß Aspekte rund um Kreativität und Innovation wachgerufen werden.
Es kann aber auch um etwas übergeordnete Fragen der Menschenführung gehen (indem zum Beispiel eine schwierige Führungsdilemma-Situation als Fall aufbereitet wird, der anschließend in seinen Optionen diskutiert werden muss) oder es kann um kundenbezogene und vertriebliche Aspekte gehen. Gerade die Tatsache, dass man die Fallstudie vor dem Hintergrund erstellt, bestimmte, ausgewählte Kompetenzen sehr präzise wachzurufen, macht die Beurteilung der entsprechenden Aspekte auch im Remote Setting leichter.
Sehr „große“ Fallstudien, in denen sehr viele Kompetenzen miteinander vermengt werden, sind online im Hinblick auf die Durchführungsbedingungen und im Hinblick auf die Klarheit der Einschätzung sicherlich deutlich weniger hilfreich.
5) Interview
Für das Interview gilt sicherlich, dass sich die Beobachter und Beurteiler aufgrund der anfangs diskutierten kommunikativen Einschränkungen eben auch nicht ganz so leicht die Bälle zuspielen können oder sich Signale geben können, wie das im Präsenzinterview der Fall ist. Hier kann man durch einen kleinen Blickkontakt den Wunsch signalisieren, die nächste Frage zu formulieren oder mit sehr knappen Signalen zum Beispiel auf die Notwendigkeit der zeitlichen Beschleunigung hinweisen. Wie lässt sich das Fehlen dieser Dimension zwischen den Beurteilern nun im Remoteverfahren kompensieren? Die einfachste und pragmatischste Möglichkeit ist ein eigener Moderatoren-Chat, in denen die Interviewer sich wechselseitig Hinweise geben können, ob noch mal an irgendeiner Stelle vertieft werden soll oder ob man sich eher fokussieren muss, um den Zeitplan nicht zu überziehen. Ein kleines vorher vereinbartes Signal (z. B. ein Ausrufezeichen, welches ein Interviewer im gemeinsamen Chat postet) reicht dann schon, um zu wissen, dass jemand die nächste Anschlussfrage stellen will. So kann die fehlende körpersprachliche Dimension, die eben gerade im Interview auch zwischen den Beurteilern eine Rolle spielt im Remote AC recht erfolgreich durch eine andere Strategie ersetzt werden.
Resümee
Zusammenfassend wird sich die zunehmende Verbreitung von Remote-Assessments nicht aufhalten lassen. Sie werden Präsenz-Verfahren nicht vollständig ersetzen können. Vor allem dann, wenn man sich auch einen gewissen „Event-Charakter“ wünscht, auf Networking Wert legt oder Sichtbarkeit im Management, dann haben Gruppen-Development-Center eine Dimension, die sich online nicht voll abbilden lässt. Hinzu kommen die Anfangs diskutierten Aspekte, die bestimmte Beurteilungsaspekte einschränken. Es wird also eher zu einer sinnvollen Verzahnung von Online- und Offline-Aktivitäten in der Auswahl kommen und man wird unternehmensspezifische Prozesse finden, die so gestaltet werden, dass die Remote-Komponente ihren größtmöglichen Beitrag und Nutzen entfaltet und in denen durch einen klugen Ablauf die Einschränkungen nicht zum Tragen kommen.